Viele
Menschen glauben, daß nach dem Tod und Zerfall des Körpers
auch das Kontinuum des Geistes ein Ende nimmt und daß der
Geist nicht weiterexistiert, so wie eine Kerzenflamme, deren Wachs
verbrannt ist. Es gibt sogar Menschen, die sich mit dem Gedanken
tragen, Selbstmord zu begehen, in der Hoffnung, daß mit
ihrem Tod ihre Probleme und Leiden ein Ende finden; diese Ansichten
sind aber völlig falsch. Wie bereits erklärt, sind unser
Körper und Geist getrennte Wesenheiten. Obwohl der Körper
beim Tod zerfällt, erfährt das Kontinuum des Geistes
keine Unterbrechung. Anstatt ein Ende zu finden, verläßt
der Geist ganz einfach den gegenwärtigen Körper und
geht in das nächste Leben über. Gewöhnlichen Wesen
bringt der Tod nur neue Leiden, anstatt sie von ihrem Elend zu
erlösen. Da sie dies nicht verstehen, zerstören viele
Menschen ihr kostbares menschliches Leben, indem sie Selbstmord
begehen. Eine besondere spirituelle Praxis, die früher ziemlich
weit verbreitet war, heißt "Bewußtseinsübertragung
in einen anderen Körper". Es gibt viele Beispiele früherer
Praktizierender, die ihr Bewußtsein von ihrem normalen in
einen anderen Körper übertragen konnten. Wenn Körper
und Geist die gleiche Wesenheit sind, wie ist es dann möglich,
daß diese Praktizierenden ihr Bewußtsein auf diese
Weise übertragen konnten? Selbst heute ist es nichts Ungewöhnliches,
daß der Geist den physischen Körper vor dem Tod zeitweise
verläßt. So haben zum Beispiel viele Leute, die keine
spirituell Praktizierenden sind, sogenannte "außerkörperliche
Erfahrungen". Ein anderer Weg, der uns zum Verständnis
von vergangenen und zukünftigen Leben führt, besteht
in der Untersuchung der Vorgänge des Schlafens, Träumens
und Aufwachens, weil sie den Vorgängen des Todes, des Zwischenzustandes
und der Wiedergeburt sehr ähnlich sind. Wenn wir einschlafen,
sammeln sich unsere groben inneren Winde und lösen sich nach
innen auf. Unser Geist wird zunehmend subtiler, bis er sich in
den sehr subtilen Geist des Klaren Lichtes des Schlafes umwandelt.
Während das Klare Licht des Schlafes manifest ist, sind wir
im Tiefschlaf und sehen für Außenstehende wie tot aus.
Wenn es endet, wird unser Geist zunehmend gröber, und wir
durchschreiten die verschiedenen Stadien des Traumzustandes. Schließlich
werden unser normales Erinnerungsvermögen und die Fähigkeit
der geistigen Kontrolle wiederhergestellt, und wir wachen auf.
Wenn das geschieht, verschwindet unsere Traumwelt, und wir nehmen
die Welt des Wachzustandes wahr.
Ein
sehr ähnlicher Vorgang spielt sich während unseres Todes
ab. Wenn wir sterben, lösen sich unsere Winde nach innen
auf, und unser Geist wird zunehmend subtiler, bis sich der sehr
subtile Geist des Klaren Lichtes des Todes manifestiert. Die Erfahrung
des Klaren Lichtes des Todes ist der Erfahrung des Tiefschlafs
sehr ähnlich. Wenn das Klare Licht des Todes aufhört,
erfahren wir die Stadien des Zwischenzustandes oder Bardos auf
tibetisch, der ein traumähnlicher Zustand ist und zwischen
Tod und Wiedergeburt auftritt. Nach wenigen Tagen oder Wochen
endet der Zwischenzustand, und wir werden wiedergeboren. So wie
die Traumwelt beim Erwachen aus dem Schlaf verschwindet und wir
die Welt des Wachzustandes wahrnehmen, so hören bei der Wiedergeburt
die Erscheinungen des Zwischenzustandes auf, und wir nehmen die
Welt unseres nächsten Lebens wahr. Der einzig bedeutsame
Unterschied zwischen dem Vorgang des Schlafens, Träumens
und Aufwachens und dem Vorgang des Sterbens, des Zwischenzustandes
und der Wiedergeburt besteht darin, daß nach der Beendigung
des Klaren Lichtes des Schlafes die Verbindung zwischen unserem
Geist und unserem gegenwärtigen Körper intakt bleibt,
während sie nach dem Klaren Licht des Todes abbricht. Wenn
wir darüber nachdenken, werden wir die Überzeugung gewinnen
können, daß vergangene und zukünftige Leben existieren.
Normalerweise
glauben wir, daß die Dinge, die wir in Träumen wahrnehmen,
nicht real sind, während die Dinge, die wir wahrnehmen, wenn
wir wach sind, wahr sind; aber in Wirklichkeit sind alle Dinge,
die wir wahrnehmen, insofern wie Träume, als sie bloße
Erscheinungen des Geistes sind. Für diejenigen, die Träume
richtig interpretieren können, haben sie eine große
Bedeutung. Wenn wir zum Beispiel in einem Traum ein bestimmtes
Land besuchen, in dem wir in diesem Leben noch nicht gewesen sind,
dann weist unser Traum auf eine von vier Möglichkeiten hin:
wir sind in einem früheren Leben in diesem Land gewesen;
wir werden es später in diesem Leben besuchen; wir werden
es in einem zukünftigen Leben besuchen, oder dieses Land
hat für uns eine persönliche Bedeutung, falls wir beispielsweise
kürzlich einen Brief aus diesem Land erhalten oder eine Fernsehsendung
darüber gesehen haben. Ganz ähnlich ist es, wenn wir
vom Fliegen träumen. Das kann bedeuten, daß wir in
einem früheren Leben fliegen konnten wie ein Vogel oder wie
ein Meditierender mit Wunderkräften oder daß wir in
Zukunft so ein Wesen sein werden. Ein Traum vom Fliegen kann auch
eine übertragene Bedeutung haben und eine Verbesserung unserer
Gesundheit oder unseres Geisteszustandes symbolisieren.
Wenn
wir mit einem positiven Geist über die Natur des Geistes
und die Analogie des Schlafens, Träumens und Aufwachens bedenken,
wird uns dies mit Sicherheit zu einem tiefen Verständnis
führen und wir werden erkennen, daß die Existenz unserer
zukünftigen Leben eine Tatsache ist. Dieses Wissen ist sehr
kostbar und hilft uns, große Weisheit zu erlangen. Wir werden
verstehen, daß das Glück zukünftiger Leben wichtiger
ist als das Glück dieses Lebens, ganz einfach deshalb, weil
die zahllosen zukünftigen Leben viel länger sind als
dieses eine kurze Menschenleben. Dies wird uns dazu motivieren,
für das Glück unserer zukünftigen Leben zu sorgen
oder zu versuchen, durch das Aufgeben unserer Verblendungen beständige
Befreiung von Leiden zu erlangen.
Auszüge aus dem Buch Verwandle Dein Leben
von Geshe Kelsang Gyatso,
überarbeitet von Gerd Ludwig (nicht freigegeben zur Veröffentlichung)
|