Tod

 

Niemand möchte leiden. Tag und Nacht, selbst in unseren Träumen, versuchen wir instinktiv auch das kleinste Leiden zu vermeiden. Dies weist darauf hin - auch wenn wir uns dessen nicht vollkommen bewußt sind - daß das, was wir im tiefsten Inneren wirklich suchen, beständige Befreiung von Leiden ist. Es gibt Zeiten, in denen wir frei von körperlichen Beschwerden und geistigen Schmerzen sind, aber dieser Zustand hält nicht an. Es dauert nicht lange und unser Körper fühlt sich erneut unwohl oder wird krank, und unser Geist wird von Sorgen oder Unzufriedenheit geplagt. Wenn wir die Lösung für eines unserer Probleme gefunden haben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das nächste auftaucht und seinen Platz einnimmt. Dies zeigt uns, daß es uns trotz unseres Wunsches nach beständiger Befreiung von Leiden nicht gelungen ist, dies zu erreichen. Solange Verblendungen in unserem Geist bleiben, werden wir nie vollkommen frei von Leiden sein. Es kann Unterbrechungen geben, aber es dauert nicht lange und die Probleme kehren zurück. Der einzige Weg, unser Leiden definitiv zu beenden, besteht im Befolgen des spirituellen Pfades. Daß alle Lebewesen tief in ihrem Herzen die vollkommene Befreiung von Leiden wünschen, zeigt uns, daß alle in Wirklichkeit dem spirituellen Pfad folgen müssen.

Doch weil unser Wunsch nach weltlichen Vergnügen so stark ist, haben wir wenig oder gar kein Interesse an der spirituellen Praxis. Aus spiritueller Sicht ist dieser Mangel an Interesse an der spirituellen Praxis eine Form von Faulheit, die man die "Faulheit der Anhaftung" nennt. Solange diese Faulheit in uns ist, wird das Tor zur Befreiung für uns geschlossen bleiben, und daher werden wir in diesem Leben weiter von Elend geplagt sein und Leben für Leben endloses Leiden erfahren. Die Methode, diese Faulheit zu überwinden, besteht in der Meditation über den Tod. Wir müssen immer wieder über unseren Tod nachdenken und meditieren, bis wir eine tiefe Realisation des Todes haben. Obwohl wir alle auf einer intellektuellen Ebene wissen, daß wir irgendwann sterben werden, sind wir uns des Todes nur oberflächlich bewußt. Da unser intellektuelles Wissen vom Tod unser Herz nicht berührt, denken wir Tag für Tag: "Ich werde heute nicht sterben, ich werde heute nicht sterben." Selbst an unserem Todestag denken wir darüber nach, was wir morgen oder nächste Woche tun werden. Der Geist, der jeden Tag denkt: "Ich werde heute nicht sterben", ist täuschend; er führt uns in die falsche Richtung und bewirkt, daß unser Menschenleben leer wird. Wenn wir andererseits über den Tod meditieren, werden wir den irreführenden Gedanken "Ich werde heute nicht sterben" allmählich durch den nichttäuschenden Gedanken "Ich könnte heute sterben" ersetzen. Der Geist, der spontan jeden Tag denkt: "Ich könnte heute sterben", ist die Realisation des Todes. Diese Realisation beseitigt direkt unsere Faulheit der Anhaftungund öffnet das Tor zum spirituellen Pfad.

Generell gesehen, könnten wir heute sterben oder wir könnten nicht sterben - wir wissen es nicht. Wenn wir aber jeden Tag denken: "Ich werde heute nicht sterben", täuscht uns dieser Gedanke, weil er aus unserer Unwissenheit stammt. Wenn wir aber jeden Tag denken: "Ich könnte heute sterben", täuscht uns dieser Gedanke nicht, denn er stammt aus unserer Weisheit. Dieser hilfreiche Gedanke wird unsere Faulheit der Anhaftung unterbinden und uns ermutigen, uns auf das Glück unserer zahllosen zukünftigen Leben vorzubereiten oder den Pfad der Befreiung zu betreten. Auf diese Weise geben wir unserem menschlichen Leben einen tiefen Sinn.

Um über den Tod zu meditieren, denken wir darüber nach, daß der Tod sicher und daß unsere Todeszeit ungewiß ist. Wir müssen verstehen, daß uns zur Todeszeit und nach dem Tod nur die spirituelle Praxis helfen kann.

DER TOD IST SICHER

Der Tod wird ganz bestimmt kommen und nichts kann ihn aufhalten. Wir denken über folgendes nach:

Ganz gleich, wo ich geboren bin, ob es in einer glücklichen oder unglücklichen Existenz ist, ich werde mit Sicherheit sterben müssen. Ob ich unter den glücklichsten Umständen auf dieser Erde oder in der tiefsten Hölle geboren bin, ich werde sterben müssen. Wie weit ich auch reise, ich werde niemals einen Ort finden, wo ich mich vor dem Tod verstecken kann, selbst wenn ich weit in den Raum reise oder mich tief in der Erde vergrabe. Niemand, der im ersten Jahrhundert gelebt hat, lebt heute noch, und niemand, der im zweiten Jahrhundert gelebt hat, lebt heute noch und so fort. Nur die Namen überleben. Alle, die vor zweihundert Jahren gelebt haben, sind gestorben, und alle, die heute leben, werden in zweihundert Jahren nicht mehr hier sein.

Wenn wir über diese Punkte meditieren, sollten wir uns fragen: "Kann ich allein den Tod überleben?" Wenn unser Karma, dieses Leben zu erfahren, zu Ende geht, kann nichts und niemand den Tod verhindern. Wenn die Zeit unseres Todes kommt, gibt es kein Entkommen. Wenn es möglich wäre, den Tod durch Hellsicht oder Wunderkräfte zu verhindern, wären diejenigen, die solche Kräfte besessen haben, unsterblich geworden. Aber selbst Hellsichtige sterben. Die mächtigsten Könige, die in dieser Welt regierten, waren hilflos gegenüber der Macht des Todes. Der König der Tiere, der Löwe, der einen Elefanten töten kann, wird sofort vernichtet, wenn er dem Herrn des Todes begegnet. Selbst für Millionäre besteht keine Möglichkeit, den Tod zu vermeiden. Sie können den Tod nicht durch Bestechung abwehren und sich mit den Worten Zeit kaufen: "Wenn du meinen Tod verschiebst, werde ich dir mehr Reichtum geben, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst."

Der Tod ist unerbittlich und schließt keine Kompromisse. Er ist wie ein riesiger Berg, der in alle vier Richtungen zerfällt; es gibt keine Möglichkeit, seine Vernichtung aufzuhalten. Das gleiche gilt für das Altem und die Krankheit. Das Altem kommt heimlich und untergräbt unsere Jugend, unsere Kraft und unsere Schönheit. Obwohl wir den Vorgang kaum bemerken, ist er bereits im Gange und kann nicht umgekehrt werden. Krankheit zerstört das Wohlbefinden, die Kraft und die Stärke unseres Körpers. Wenn Ärzte uns helfen, unsere erste Krankheit zu überwinden, nimmt eine andere ihren Platz ein, bis unsere Krankheit schließlich nicht mehr geheilt werden kann und wir sterben. Wir können der Krankheit und dem Tod nicht entfliehen, indem wir vor ihnen weglaufen. Wir können sie nicht mit Reichtum besänftigen oder durch Wunderkräfte verschwinden lassen. Jedes einzelne Wesen in dieser Welt muß Alter, Krankheit und Tod erleiden.

Die Lebenszeit kann nicht verlängert werden; tatsächlich nimmt sie ständig ab. Vom Moment unserer Zeugung an eilen wir unerbittlich auf den Tod zu, so wie ein Rennpferd zum Ziel galoppiert. Selbst Rennpferde verlangsamen gelegentlich ihren Schritt, aber in unserem Rennen zum Tod halten wir niemals ein, nicht einmal für eine Sekunde. Während wir schlafen, und während wir wach sind, unser Leben vergeht sehr schnell. Von Zeit zu Zeit hält jedes Fahrzeug einmal an und unterbricht seine Reise, aber unsere Lebenszeit hört nicht auf abzulaufen. Schon einen Moment nach unserer Geburt ist bereits ein Teil unserer Lebenszeit verstrichen. Wir leben in der Umarmung des Todes. Nach unserer Geburt haben wir keine Möglichkeit auch nur für eine Minute zu verweilen. Wir eilen in die Umarmung des Herrn des Todes wie ein Athlet beim Rennen. Wir denken vielleicht, daß wir unter den Lebenden weilen, aber unser Leben ist der sichere Weg zum Tod.

Stellen wir uns vor, unser Arzt teilt uns mit, daß wir an einer unheilbaren Krankheit leiden und nur noch eine Woche zu leben haben. Wenn uns ein Freund in diesem Moment ein phantastisches Geschenk, wie einen Diamanten, oder ein neues Auto oder einen Gratisurlaub anbieten würde, würde uns das nicht groß begeistern. In Wirklichkeit befinden wir uns aber in genau diesem Dilemma, weil wir alle an einer tödlichen Krankheit leiden. Wie dumm ist es daher, sich allzusehr für die vergänglichen Vergnügen dieses kurzen Lebens zu interessieren!

Wenn es schwierig für uns ist, über den Tod zu meditieren, können wir einfach einer tickenden Uhr zuhören und uns bewußt werden, daß jedes Ticken das Ende eines Momentes unseres Lebens kennzeichnet und uns dem Tod näherbringt. Wir können uns auch vorstellen, daß der Herr des Todes ein paar Kilometer entfernt von unserem Hause wohnt und daß wirf während wir dem Ticken der Uhr zuhören, Schritt für Schritt in Richtung des Todes gehen. Auf diese Weise werden wir echte Reisende werden.

Unsere Welt ist so unbeständig wie Herbstwolken. Unsere Geburt und unser Tod gleichen dem Auftritt und dem Abgang von Schauspielern auf einer Bühne. Schauspieler wechseln häufig ihre Kostüme und Rollen und treten in vielen verschiedenen Verkleidungen auf. Genauso nehmen Lebewesen ständig verschiedene Formen an und betreten neue Welten. Manchmal sind sie Menschen, manchmal sind sie Tiere, und manchmal betreten sie die Hölle. Wir sollten verstehen, daß die Lebensspanne eines Lebewesens vergeht wie ein Blitz am Himmel und so schnell verschwindet wie Wasser, das von einem hohen Berg in die Tiefe stürzt.

Der Tod ist uns sicher, ganz gleich, ob wir uns die Zeit für die spirituelle Praxis genommen haben oder nicht. Obwohl das Leben kurz ist, wäre es nicht so schlimm, wenn wir viel Zeit für die spirituelle Praxis hätten, aber der größte Teil unserer Zeit wird durch Schlafen, Arbeiten, Essen, Einkaufen/ Reden usw. aufgebraucht, und es bleibt nur wenig Zeit für die reine spirituelle Praxis. Unsere Zeit wird sehr leicht durch andere Angelegenheiten in Anspruch genommen, bis wir plötzlich sterben.

Wir sind der Meinung, daß wir viel Zeit für die spirituelle Praxis haben, aber wenn wir unsere Lebensweise genau untersuchen, werden wir sehen, daß die Tage verstreichen, ohne daß wir dazu komment ernsthaft zu praktizieren. Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, uns der spirituellen Praxis in reiner Weise zu widmen, werden wir zum Zeitpunkt des Todes auf unser Leben zurückblicken und sehen, daß es von geringem Nutzen war. Meditieren wir jedoch über den Tod, werden wir einen derart aufrichtigen Wunsch nach reiner Praxis entwickeln, daß wir ganz natürlich unseren Tagesablauf ändern, so daß zumindest ein wenig Zeit für die Praxis übrigbleibt, und schließlich werden wir mehr Zeit für die Praxis finden als für andere Dinge.

Wenn wir immer wieder über den Tod meditieren, kann es sein, daß wir uns fürchten, aber es ist nicht genug, uns bloß zu ängstigen. Haben wir einmal eine angemessene Furcht vor einem unvorbereiteten Tod entwickelt, sollten wir nach etwas suchen, das wirklichen Schutz bietet. Die Pfade zukünftiger Leben sind sehr lang und unbekannt. Wir müssen Leben um Leben durchlaufen, und wir können nicht sicher sein, wo wir wiedergeboren werden: Ob wir den Pfaden in unglückliche Existenzzustände oder den Pfaden in glücklichere Bereiche folgen müssen. Wir sind weder frei noch unabhängig, sondern müssen dorthin gehen, wo uns unser Karma hinbringt. Deshalb müssen wir etwas finden, das uns einen sicheren Weg in zukünftige Leben zeigt, etwas, das uns auf korrekte Pfade und fort von falschen Pfaden führt. Irdische Güter und die Vergnügen dieses Lebens können uns nicht helfen. Da nur die spirituellen Unterweisungen einen fehlerlosen Pfad enthüllen, der uns in der Zukunft helfen und beschützen wird, müssen wir uns mit Körper, Rede und Geist bemühen, spirituelle Unterweisungen, wie zum Beispiel diejenigen, die in diesem Buch vorgestellt werden, in die Praxis umzusetzen. Der Yogi Milarepa sagte:

In zukünftigen Leben gibt es mehr zu fürchten als in diesem. Hast du etwas vorbereitet, das dir helfen wird? Wenn du dich nicht auf deine zukünftigen Leben vorbereitet hast, dann tue es jetzt. Der einzige Schutz gegen künftige Gefahren ist die Praxis der heiligen spirituellen Unterweisungen.

Wenn wir über unser eigenes Leben nachdenken, werden wir erkennen, daß viele Jahre ohne das geringste Interesse an der spirituellen Praxis verstrichen sind; und obwohl wir jetzt den Wunsch haben zu praktizieren, hindert uns immer noch unsere Faulheit daran, rein zu praktizieren. Ein Gelehrter namens Gungtang sagte:

Ich habe zwanzig Jahre damit verbracht, keine spirituellen Unterweisungen praktizieren zu wollen. Ich habe die nächsten zwanzig Jahre mit dem Gedanken verbracht, daß ich später praktizieren kann. Ich habe weitere zwanzig Jahre mit anderen Tätigkeiten verbracht und bedauert, daß ich mich nicht der spirituellen Praxis gewidmet habe. Das ist die Geschichte meines leeren Menschenlebens.

Dies könnte unsere eigene Lebensgeschichte sein. Wenn wir aber über den Tod meditieren, werden wir es vermeiden, unser kostbares menschliches Leben zu verschwenden, und wir werden danach streben, ihm einen Sinn zu geben.

Wir überlegen uns diese Punkte und denken mit Überzeugung: "Ich werde sicher sterben." Denken wir darüber nach, daß zur Zeit unseres Todes nur unsere spirituelle Praxis eine wirkliche Hilfe für uns ist, fassen wir einen festen Entschluß: "Ich muß die spirituellen Unterweisungen in die Praxis umsetzen." Wenn dieser neue Gedanke klar und deutlich in unserem Geist entsteht, führen wir die verweilende Meditation aus, um uns mehr und mehr vertraut mit ihm zu machen, bis wir ihn nicht mehr verlieren.

DER ZEITPUNKT UNSERES TODES IST UNGEWISS

Manchmal halten wir uns selbst zum Narren und denken: "Ich bin jung, und deshalb werde ich nicht so bald sterben." Wie fehlgeleitet dieser Gedanke aber ist, können wir anhand der vielen jungen Menschen sehen, die vor ihren Eltern sterben. Manchmal denken wir: "Ich bin gesund, und deshalb werde ich nicht so bald sterben." Wir können aber sehen, daß Menschen, die gesund sind und für Kranke sorgen, manchmal vor ihren Patienten sterben. Es kann vorkommen, daß Menschen, die ihre Freunde im Krankenhaus besuchen wollen, vorher selbst bei einem Autounfall sterben, da der Tod sich nicht auf diejenigen beschränkt, die alt und krank sind. Jemand, der am Morgen lebendig und wohlauf ist, kann schon am Nachmittag tot sein, und jemand, der gesund ist, wenn er einschläft, kann sterben, bevor er aufwacht. Manche Menschen sterben beim Essen, und manche Menschen sterben in der Mitte eines Gespräches. Manche Menschen sterben bei der Geburt.

Der Tod kann ohne Warnung eintreten. Dieser Feind kann jederzeit kommen, und oft schlägt er schnell zu, wenn wir es am wenigsten erwarten. Er kann uns ereilen, wenn wir zu einer Party fahren, oder wenn wir unseren Fernseher einschalten oder wenn wir denken: "Ich werde heute nicht sterben" und Pläne für unseren Sommerurlaub oder unseren Ruhestand schmieden. Der Herr des Todes kann sich an uns heranschleichen, so wie dunkle Wolken über den Himmel ziehen. Manchmal ist der Himmel hell und klar, wenn wir ein Haus betreten, aber wenn wir wieder nach draußen kommen, ist der Himmel bedeckt. Genauso schnell kann der Tod seinen Schatten auf unser Leben werfen.

Es gibt viel mehr Umstände, die zum Tod führen, als Umstände, die das Überleben fördern. Es wäre nicht so schlimm, daß unser Tod sicher und unsere Lebensspanne unbestimmt ist, wenn die Umstände, die zum Tod führen, selten wären. Es gibt aber unzählige äußere und innere Umstände, die unseren Tod verursachen können. Die äußere Umgebung verursacht den Tod durch Hungersnöte, Überschwemmungen, Feuer, Erdbeben, Umweltver-schmutzung und so fort. Ähnlich verursachen die vier inneren Elemente unseres Körpers, Erde, Wasser, Feuer und Wind, den Tod, wenn ihre Harmonie verlorengeht und sich eines von ihnen übermäßig entwickelt. Wenn diese inneren Elemente in Harmonie miteinander sind, heißt es, daß sie wie vier Schlangen der gleichen Art und Stärke sind, die friedlich miteinander leben. Wenn aber keine Harmonie mehr herrscht, ist es so, als ob eine Schlange stärker wird und die anderen auffrißt und dann schließlich selbst verhungert.

Neben diesen unbelebten Todesursachen können andere Lebewesen, wie Diebe, feindliche Soldaten und wilde Tiere, unseren Tod bewirken. Selbst Dinge, die wir nicht als bedrohlich ansehen, Dinge, die wir als Stütze und Schutz in unserem Leben betrachten, wie unser Haus oder unser Auto oder unser bester Freund, können sich als Ursachen für unseren Tod erweisen. Manchmal werden Menschen von ihrem eigenen Haus zu Tode gequetscht, oder sie stürzen auf ihrer eigenen Treppe in den Tod, und jeden Tag werden viele Menschen in ihren Autos getötet. Manche Menschen sterben im Urlaub, und andere Menschen werden durch ihre Hobbys und Vergnügungen getötet, so zum Beispiel Reiter, die von ihrem Pferd zu Tode stürzen. Das Essen, das wir zu uns nehmen, um unser Leben zu fördern und zu erhalten, kann die Ursache des Todes sein. Selbst unsere Freunde und Geliebten können aus Versehen oder absichtlich zu Ursachen unseres Todes werden. Wir können in den Zeitungen lesen, daß sich Liebespaare gegenseitig töten und Eltern ihre eigenen Kinder umbringen. Wenn wir es sorgfältig prüfen, werden wir kein weltliches Vergnügen finden können, das nicht eine potentielle Ursache für den Tod ist und einzig zur Aufrechterhaltung des Lebens dient. Der große Gelehrte Nagarjuna sagte:

Wir bleiben am Leben inmitten Abertausender von Umständen, von denen der Tod droht. Unsere Lebenskraft ist wie eine Kerzenflamme im Wind. Die Kerzenflamme unseres Lebens läßt sich leicht durch die Winde des Todes auslöschen, die aus allen Richtungen wehen.

Jeder Mensch hat das Karma geschaffen, für eine gewisse Zeit in diesem Leben zu bleiben. Da wir uns aber nicht daran erinnern können, welches Karma wir geschaffen haben, kennen wir die exakte Dauer unseres gegenwärtigen Lebens nicht. Es kann sein, daß wir einen vorzeitigen Tod sterben, bevor wir unsere Lebensspanne beendet haben, weil es möglich ist, unsere Verdienste, die Ursache unseres Glückes, schneller aufzubrauchen als das Karma, das unsere Lebenszeit bestimmt. Wenn das geschieht, werden wir so krank, daß uns die Ärzte nicht mehr helfen können, oder wir stellen fest, daß wir Nahrung und andere Notwendigkeiten nicht finden können, um unser Leben zu erhalten. Ist unsere Lebenszeit jedoch noch nicht zu Ende und haben wir noch Verdienste übrig, können wir alle Umstände, die für die Genesung notwendig sind, finden, selbst wenn wir ernsthaft krank werden.

Der menschliche Körper ist sehr zerbrechlich. Es wäre nicht so schlimm, daß es viele Ursachen für den Tod gibt, wenn unser Körper hart wie Stahl wäre, aber er ist empfindlich. Es sind keine Gewehre und Bomben nötig, um ihn zu vernichten. Er kann von einer kleinen Nadel zerstört werden.

Wie Nagarjuna sagt:

Es gibt viele Zerstörer unserer Lebenskraft. Unser menschlicher Körper ist wie eine Luftblase im Wasser. So wie eine Luftblase zerplatzt, sobald sie berührt wird, so kann ein einziger Wassertropfen im Herzen oder der kleinste Kratzer eines giftigen Domes unseren Tod verursachen. Nagarjuna sagt, daß das gesamte Weltsystem am Ende dieses Äons von Feuer verschlungen und nicht einmal Asche zurückbleiben werde. Da das ganze Universum leer wird, muß nicht betont werden, daß dieser empfindliche, menschliche Körper sehr schnell zerfallen wird.

Wir können über den Atmungsprozeß nachdenken, und wie er andauert, ohne Unterbrechung zwischen Ein- und Ausatmung. Wenn er aufhören würde, würden wir sterben. Doch wir hören nicht auf zu atmen, selbst wenn wir schlafen und keine grobe Achtsamkeit haben, und obwohl wir in vielerlei anderer Hinsicht einer Leiche gleichen. Nagarjuna sagt: "Das ist eine wunderbare Sache!" Wenn wir morgens aufwachen, sollten wir uns freuen und denken: "Wie erstaunlich, daß mein Atem mein Leben während des Schlafes erhalten hat. Wenn er während der Nacht aufgehört hätte, wäre ich jetzt tot!"

Indem wir darüber nachdenken, daß der Zeitpunkt unseres Todes völlig ungewiß ist, und indem wir verstehen, daß es keine Garantie gibt, daß wir nicht heute sterben werden, sollten wir Tag und Nacht mit Überzeugung denken: "Ich könnte heute sterben. Ich könnte heute sterben." Meditieren wir über dieses Gefühl, kommen wir zu dem festen Entschluß:

Da ich diese Weit schon bald verlassen werde, hat es keinen Sinn, daß ich Anhaftung an die Dinge dieses Lebens entwickle. Statt dessen werde ich meinem menschlichen Leben wahren Sinn verleihen und die spirituelle Praxis aufrichtig ausüben.

Was heißt es, eine spirituelle Praxis auszuüben? Im wesentlichen bedeutet es, den Geist umzuwandeln, d. h. Verblendungen und negative Handlungen zu überwinden und konstruktive Gedanken und Handlungen zu fördern. Das können wir jederzeit tun, nicht nur wenn wir meditieren. Eine Erklärung zu den verschiedenen Stufen der Praxis der Geistesschulung folgt im zweiten Teil des Buches. Wann immer wir diese Unterweisungen in die Praxis umsetzen, üben wir eine spirituelle Praxis aus. Die Praxis der Geistesschulung ist besonders geeignet für die heutige Zeit, in der die Menschen so viele Schwierigkeiten erfahren.

Die Grundlage eines authentischen spirituellen Lebens ist moralische Disziplin. Das bedeutet, negative Handlungen wie Töten, Stehlen, sexuelles Fehlverhalten, Lügen, trennende Rede, verletzende Rede, leeres Geschwätz, Begehrlichkeit, Böswilligkeit und falsche Sichtweisen als schädlich für uns selbst und andere zu erkennen.

Wichtig ist zudem die Praxis des Gebens. Wir können nicht nur denjenigen, die es brauchen, materielle Hilfe geben, sondern wir können auch allen, denen wir begegnen, unsere Zeit, unseren guten Willen und unsere Liebe schenken. Wir können denjenigen, die Angst haben oder in Gefahr sind, Schutz geben(das gilt besonders für Tiere) und wir können spirituellen Unterweisungen oder guten Rat erteilen, wann immer es angebracht ist.

Eine weitere wichtige Praxis ist Geduld. Geduld ist ein Geist, der Schaden oder Not mit einer tugendhaften Absicht annimmt, und ist das Gegenmittel gegen Wut. Wir praktizieren Geduld, wann immer wir davon absehen, Wut zu entwickeln, selbst wenn wir verletzt oder beleidigt werden, oder wenn wir schwierige Umstände, wie Krankheit, Armut, Einsamkeit/ Verlust unserer Arbeitsstelle oder unseres Partners, oder die Nichterfüllung unserer Wünsche, ruhig annehmen. Wenn wir Schaden oder Not als Möglichkeit betrachten, unseren Geist zu schulen oder zu reinigen, können wir zu jeder Zeit einen glücklichen Geist bewahren.

Wir sollten uns außerdem anstrengen, die spirituellen Unterweisungen zu studieren und zu praktizieren, damit wir unsere spirituellen Ziele erreichen können. Wir sollten uns in neditativer Konzentration schulen, die die Quelle inneren Friedens ist. Je tiefer unsere Konzentration ist, desto tiefgründiger und stabiler wird unser geistiger Frieden sein, und desto klarer und kraftvoller wird unser Geist werden. Ganz wichtig ist die Schulung in der Weisheit, die versteht, wie die Dinge wirklich existieren. Indem wir ein tiefes Verständnis der endgültigen Wahrheit oder Leerheit erreichen, können wir die Unwissenheit des Festhaltens am Selbst aus unserem Geist tilgen und damit unseren tiefsten Wunsch beständiger Befreiung von Leiden erfüllen.


Auszüge aus dem Buch Verwandle Dein Leben
von Geshe Kelsang Gyatso,
überarbeitet von Gerd Ludwig (nicht freigegeben zur Veröffentlichung)