Von
Wolfgang Poier
Der folgende Artikel stellt die ausformulierte Fassung eines Impulsvortrages
für die interdisziplinäre Tagung von Physik, Systemtherapie
und Buddhismus zum Thema "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?"
im Buddhistischen Zentrum Graz am 12. und 13. November 2004 dar.
Im Buddhismus werden alle Phänomene als "relativ"
gesehen. Phänomene können Erscheinungen materieller
Art sein, wie Dinge, Körper von Lebewesen oder Pflanzen.
Als relativ gelten auch die Bewusstseinsinhalte wie Gedanken,
Gefühle, Erinnerungen und Wahrnehmungen. Relativ sind Phänomene,
denn sie sind zusammengesetzt, sie stehen in Beziehung zueinander,
sind vernetzt und voneinander abhängig und sie verändern
sich die ganze Zeit. Zusätzlich erscheinen sie natürlich
je nach Standpunkt verschieden. Insofern kann man sagen, dass
diese Phänomene nicht wirklich sind, in einem letztendlichen,
absoluten Sinn.
Für viele Menschen wäre all das aber lediglich eine
Gedankenspielerei. Ob man die Erscheinungen der Welt als "relativ"
oder "absolut" bezeichnet, könnte für eine
rein philosophische Frage ohne besondere lebenspraktische Bedeutung
gehalten werden. Aus buddhistischer Sicht gibt es in Zusammenhang
mit den Phänomenen und ihrer Wahrnehmung jedoch ein essentielles
Problem für alle Lebewesen. Denn diese Erscheinungen können
als ,,leidhaft" erfahren werden. Immer wieder zeigt sich
die alles durchdringende Veränderlichkeit der Dinge. Diese
hat zweifelsohne Vorteile, nämlich dann, wenn sich eine unangenehme
Situation verbessert. Vergänglichkeit wird jedoch als sehr
unerfreulich erfahren, wenn sich etwas verändert, das man
gerne länger im gewünschten Zustand vorfände; zum
Beispiel einen jugendlichen Körper, der aber auch dein Prozess
des Alterns ausgesetzt ist, welcher unweigerlich irgendwann einmal
in das Sterben mündet.
Über konkretes Leid braucht man in Zeiten einer Tsunami Katastrophe
nicht viele Worte zu verlieren, jeder weiß, was damit gemeint
ist, kennt die Bilder und Berichte und kann sich mehr oder weniger
in die leidhaften Situationen der Menschen hinein versetzen.
Neben allen angedeuteten Nachteilen, die es hat, die Phänomene
als letztendlich wirklich zu erleben, weil dann Krankheit, Alter,
Tod und Verlust auch wirklich wären, ist es völlig angebracht,
sich die Frage zu stellen, oh wir im Leben unser volles Potenzial
an Liebe, Freude, Fruchtlosigkeit und Weisheit verwirklichen oder
zumindest daran arbeiten. Wenn das der Fall ist, nützen wir
unser Leben optimal. Wenn nicht, ist doch einige tiefer schürfende
Überlegung sinnvoll und auch die Konsequenz, das Leben auf
Erleuchtung zum Nutzen der Lebewesen auszurichten und sich in
Meditation zu üben.
Fangen wir also wieder bei der Basis an:
Die Erscheinungen sind nicht in der Weise wirklich, wie sie erscheinen.
So kann von vielen Dingen nur die Oberfläche wahrgenommen
werden, zum Beispiel sehen wir von einem Baum die Rinde, welche
Wurzeln, Stamm und Äste umhüllt, und die Blätter.
Weiters erkennen wir, dass es sich bei einem Baum zwar um eine
Ganzheit handelt, die aber genauer betrachtet lediglich eine Komposition
von Elementen ist. Die Dinge sind zusammengesetzt. Und zudem verändern
sie sich die ganze Zeit. Der Baum manifestiert sich unterschiedlich
in den verschiedenen Phasen seines Wachstums und auch je nach
Jahreszeit, mal mit Blättern, mal ohne Blätter. Besucht
man eine Tischlerei, kann man gut erkennen, dass ein Baum zu Brettern
weiterverarbeitet wurde und dabei Holzspäne abgefallen sind.
Nach weiterer Zerkleinerung einer Holzfaser können wir an
technischen Hochschulen unter dem Mikroskop untersuchen, dass
die Holzfaser aus Teilchen wie Elementen, Molekülen und Atomen
besteht. Und dann ginge es weiter mit quantenphysikalischen Überlegungen
zur Heisenbergschen Unschärferelation zwischen Teilchen und
Welle sowie weiterführenden mikrokosmischen Theorien über
Quarks und Strings.
Wie ja der Buddhismus, die moderne Physik, oder auch konstruktivistische
philosophische Schulen feststellen, geschieht die Wahrnehmung
der Welt jedoch immer in Abhängigkeit von einem Beobachter.
Der Beobachter macht die Beobachtung erst zu dem, was sie ist.
So entscheidet in der Quantenmechanik letztendlich die Art der
Fragestellung, sprich die Art des Messens und der Versuchanordnung,
über das Ergebnis: Mal verhält sich ein Partikel wie
ein quasi materielles Teilchen, mal wie eine Welle, wie Schwingungsenergie.
Der französische Schriftsteller Jacques Jouet sagte mir einmal
den Satz: "Wenn ich eine Landschaft betrachte, hin ich nicht
mehr als ein Landschaftsmaler, der vielleicht von einem anderen
Landschaftsmaler gesehen wird." In diesem Satz kommt konstruktivistisches
Denken zum Ausdruck. Die Art der Perspektive und der Bewusstseinsinhalte
entscheidet über die in der Regel konzeptuell und emotional
gefärbte Wahrnehmung und das, was als individuelle Wirklichkeit
angesehen wird.
Gehen wir hier noch weiter an die Basis, denn auch der Beobachter
ist natürlich nicht an sich "real". Das, was wir
als unser Ich bezeichnen, bezieht sich auf den Körper und
das Bewusstsein und dessen Inhalte. Dabei fasst das "Ich"
ständig wechselnde Gedanken, Gefühle und Eindrücke
zusammen und verfügt auch über so etwas wie Erinnerung,
die diesem sich dauernd wandelnden Strom von Inhalten eine Art
von Kontinuität verleiht. Ein österreichischer Physiker
um die Wende zum 20. Jahrhundert, Ernst Mach, bezeichnete einmal
in Bezug zu damals in die westliche Kultur einfließenden
buddhistischen Gedanken das Ich als "denkökonomische"
Einheit; das Ich kann auch praktisch sein, ist aber nicht in der
Weise als eine Wirklichkeit anzusehen, die wir dem Ich aus der
Perspektive unseres Alltagsbewusstseins üblicherweise zuschreiben
.
Gehen wir parallel zur buddhistischen Analyse der Wirklichkeit
noch einen Schritt weiter und bringen diese beiden Bereiche, die
Phänomene einer äußeren Welt und das diese Phänomene
wahrnehmende Ich Bewusstsein, zusammen. Die meisten philosophischen
Schulen des Buddhismus gehen davon aus, dass kein kleinstes Teilchen
und kein kleinster Augenblick des Bewusstseins bestehen können,
da ja vorstellbar ist, diese immer weiter zu teilen. Wie kann
aber etwas scheinbar Materielles wie ein Baum durch etwas Immaterielles
wie unser Bewusstsein überhaupt wahrgenommen werden? Hierbei
vertritt die buddhistische "Nur Geist Schule" den Standpunkt,
dass Wahrnehmung nur dadurch möglich ist, dass alle Phänomene,
"Geist" sind, also sowohl die Gedanken und Gefühle
des Ich-Bewusstseins, als auch die Phänomene der äußeren
Welt.
Was ist der Geist, wird man hier weiterdenkend natürlich
fragen. Und hier gibt die Madhyamaka Schule, auf die wir uns in
der Diamantweg Praxis des Großen Siegels beziehen, die Auskunft,
dass auch der Geist selbst nicht zu finden ist, als etwas, das
über Farbe, Größe, Geschmack oder andere Merkmale
dieser Art verfüge. Weil also diese höchste Sicht der
Wirklichkeit frei von Extremen ist, zu glauben, die Dinge seien
wirklich oder auch nicht, heißt Madhyamaka übersetzt
"Nicht einmal die Mitte". Das ist die Sicht, auf die
wir uns im Kern unserer Diamantweg Praxis beziehen und die wir
in jeder Meditation auf den 16. Karmapa in unser Bewusstsein holen.
Alle Erscheinungen sind ohne wahrhafte Existenz. Sie erscheinen
wie die Spiegelung des Mondes in einer glatten Wasserfläche.
Stellen wir wieder die Frage nach dem Sinn solcher Überlegungen.
Der Buddhismus ist eben pragmatisch in einer Weise, die darauf
zielt, einen Pfeil, von dem man getroffen wurde, möglichst
schnell und mit geringem Schaden für den Getroffenen zu entfernen.
Fragen nach der Herkunft des Pfeils, seiner Machart und der Art
der Feder, die für den Schaft verwendet wurde, sind nebensächlich.
Wenn der Buddhismus feststellt, dass die Phänomene, wie sie
erfahren werden, nicht wirklich in einem absoluten Sinn sind,
will er damit den Lebewesen nutzen. Das Ziel des Buddhismus ist
nämlich, den Zustand, in dem nur die Erlebnisse erfahren
werden, umzuwandeln in den Zustand, in dem auch der Erleber erfahren
wird. Sehen wir nur Bilder in einem Spiegel und nehmen sie für
wirklich? Oder sehen wir die spannenden Bilder darin untrennbar
von der leuchtenden Natur des Spiegels? Das ist ein entscheidender
Unterschied. Der Erleber ist die Natur des Geistes, der die Welt
der Erscheinungen hervorbringt und gleichzeitig in der Lage ist,
diese zu erfahren: Erscheinung und Raum untrennbar voneinander.
Hat man diesen Zustand verwirklicht, ist man ein Buddha (tib.
Sang Gye), gereinigt von allen Schleiern der Unwissenheit und
hat alle Qualitäten des Geistes voll verwirklicht.
Um Erleuchtung zu erreichen, reicht es aber nicht, bloß
alle Erscheinungen als unwirklich zu sehen; vielleicht käme
man auf die Idee, dass es dann ohnehin egal sei, wie man sich
verhält. Die Dinge sind jedoch insofern wieder wirklich,
als sie eben wirken, wirksam sind. Was wir tun, hat eine Auswirkung
auf uns selbst und die Welt. Und da ist es sehr wohl ausschlaggebend,
ob man Rollen in einer Tragödie spielt, oder Rollen in einer
humorvollen, anregenden, spannenden und abenteuerlichen Liebesgeschichte,
die eine Fünf Sterne-Bewertung verdient.
So wird verständlich, warum der Weg des Buddhismus im Ansammeln
von "Verdienst" und "Weisheit" besteht. Verdienst
aufzubauen bedeutet sinnvolle, positive Handlungen zu setzen,
denn alle wollen Glück. Diese positiven Handlungen zum Nutzen
der Lebewesen schaffen neben Glück für andere Lebewesen
positive Eindrücke in uns, die uns ermöglichen, mehr
und mehr Vertrauen in die Raum-Natur des Geistes zu entwickeln.
Weisheit, die gleichzeitig dazu entwickelt wird, meint das Verständnis
und Bewusstsein, dass alle Vorstellungen von Dualität nicht
wirklich sind. Der Raum des Geistes ist nicht Trennung, sondern
wie ein "Behälter", der Dinge ermöglicht.
In der Verwirklichung werden Zustände entsprechend den beiden
Ansammlungen von Verdienst und Weisheit erfahren. Aus der Weisheit
entsteht der Wahrheitszustand, der mit unsichtbarem Wasserdampf
in der unendlichen Weite des Himmels verglichen werden kann. Aus
den positiven Handlungen und Wünschen entstehen die Formzustände
zum Nutzen der Lebewesen: Der Freudenzustand, die Buddhas als
Formen von Licht und Energie, die wie die strahlenden weißen
Wolken am blauen Himmel sind, und der Ausstrahlungszustand, die
Buddhas und Bodhisattvas in menschlicher Form, die dem erfrischenden
Regen vergleichbar sind, den wir mit unserem Tastsinn spüren
können.
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